Wilder Osten: Hier lassen sich im Berliner Umland frei lebende Pferde beobachten

Auch ein Boulevardmagazin hat schon berichtet: „Antonia und die wilden Pferde“ lautete der Titel einer Reportage. Antonia Gerke, die sich jeden Tag um die Pferde in Hobrechtsfelde kümmert, rollt mit den Augen: Solch kitschige Kleinmädchengeschichten liest sie nicht gern über sich. Ihre Faszination für die Koniks – so heißt die spezielle Rasse ihrer Schützlinge – ist echt und erwachsen. Und Gerke gibt die Begeisterung gerne an Besucherinnen und Besucher weiter.
Das Gut Hobrechtsfelde mit dem markanten Speicherturm im Landkreises Barnim in Brandenburg lässt sich mit dem Auto von Berlin aus in einer halben Stunde erreichen, oder Gäste nehmen die Bahn und fahren vom S-Bahnhof Buch mit dem Fahrrad weiter. Endlich angekommen, ist es allerdings gar nicht so einfach, eine der neun Herden mit insgesamt 66 Pferden zu finden. Schließlich streifen sie über ein 800 Hektar großes Areal – ihnen nachzuspüren ist also fast schon Pfadfinderarbeit.
Die Rieselfelder, auf denen die Pferde in Hobrechtsfelde zusammen mit Galloway-Rindern, Highland-Rindern, Wasserbüffeln und Mulis stehen, wurden im 19. Jahrhundert auf Geheiß von James Hobrecht angelegt, dem Städteplaner. Damals brauchte das aufstrebende Berlin ein Entwässerungssystem; bis 1985 wurde der Sandboden der Barnimer Hochfläche als Filter für Abwasser genutzt, noch heute künden Rillen im Boden von dieser Nutzung.

2011 wurde die Fläche, die etwa so groß ist wie 3500 Fußballfelder, als Naturraum für bedrohte Pflanzen- und Tierarten entwickelt, gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz. Im Speicherturm sind entsprechende informationsgeprägte Ausstellungen zu sehen, auf den Wiesen stehen vereinzelte Bäume und Büsche, zudem gibt es kleine Wäldchen, die auch von den Pferden gern besucht werden.
Um die Tiere zu finden, muss man sich nur in sie hineinversetzenUm die Tiere bei einem Besuch auch zu erblicken, gibt Antonia Gerke, die als Naturparkbotschafterin fungiert und in der Gegend auch einen eigenen Kinderreithof betreibt, einen recht einfachen Tipp: Man solle sich in die Pferde hineinfühlen, sagt sie. Ist es zum Beispiel heiß, stünden die Tiere oft in einer sandigen Kuhle am Bach, die hier „Beach“ genannt wird. Dort trinken die Pferde und baden auch manchmal.
Zudem weist Gerke auf ein paar Regeln hin, die auf dem Areal gelten, das der Agrar GmbH Gut Hobrechtsfelde gehört: Wege sollten nicht verlassen, die Pferde weder gefüttert noch gestreichelt werden, Hunde sind nicht erlaubt, auch nicht angeleint. Das mit dem Füttern sollte man auch aus Rücksicht auf andere Gäste tunlichst unterlassen. „Die Tiere sind ja nicht dumm“, sagt Gerke, fütterte sie der eine Besucher, würden sie in der Hoffnung auf weitere Snacks bei der nächsten Besucherin nach der Tasche schnappen.

Ohnehin seien die Pferde nicht zur Unterhaltung der Gäste da. „In Hobrechtsfelde haben sie die Funktion der Landschaftspfleger“, sagt Gerke. Sie halten das Gras der steppenähnlichen Landschaft kurz und sorgen dafür, dass die Verbuschung nicht überhandnimmt – außerdem düngen sie den Boden mit ihren Pferdeäpfeln. Gerke erzählt, ihre Schützlinge wären sogar im strengen Winter draußen. Die Tiere hätten dann ein dickes Winterfell und fühlten sich im Freien selbst dann wohl, wenn ordentlich Schnee liegt.
Auch abseits von Hobrechtsfelde gibt es in Brandenburg PferdeherdenDoch jetzt ist es warm – und so findet Antonia Gerke am Tag unseres Besuchs tatsächlich eine Herde am Bachlauf. Friedlich grasen sie dort, fressen den blühenden Löwenzahn, saufen Wasser aus dem Bach. Um richtige Ur-Wildpferde handelt es sich bei den robusten kleinen Tieren mit hellgrauem Fell (fachsprachlich „schwarzfalben“ genannt) und zotteliger Mähne, die zwischen 280 und 370 Kilogramm wiegen und deren Name Konik sich aus dem Polnischen für „Pferdchen“ ableitet, übrigens nicht. Es sind Nachzuchten wie die Przewalski-Pferde, die Liebenthaler Pferde und die Dülmener Pferde, die sich auch an anderen Orten in Deutschland beobachten lassen.
Für die Berliner lohnt sich zum Beispiel auch ein Ausflug nach Liebenwalde in Brandenburg. Dort ist eine Herde von rund 100 Tieren beheimatet, die eine besondere Geschichte hat: Sie geht auf eine Rückzüchtung des Verhaltensforschers Jürgen Zutz zurück, der mit seiner Arbeit in den 1960ern im Bayerischen Wald begann und nach dem Mauerfall in die Schorfheide übersiedelte. Sein Traum war es, den Pferden dort ein Leben in möglichst freier Natur zu ermöglichen.

Nachdem der Forscher 1996 gestorben war, sollten seine Pferde eigentlich zur Schlachtbank geführt werden. Doch es fanden sich engagierte Bürger, die sich für das Überleben der Tiere einsetzten. Und so gibt es auch heute noch eine wilde Herde in Liebenwalde, ganz in der Nähe des dortigen Haustierparks.
Den Unterschied zu „ganz normalen Pferden“ erkennen selbst Laien„Unsere Wildpferde leben in Herdenstrukturen mit mehreren Familien zusammen, ein Hengst hat mehrere Stuten“, erzählt Maj Luger von der Stiftung Liebenthaler Pferdeherde am Telefon. Dies ist bei normal gehaltenen Pferden nie der Fall, „dort sind Hengste entweder kastriert oder leben nicht mit Stuten zusammen“, so Luger – die Herde im nördlichen Brandenburg zu beobachten, sei also ein fast einzigartiges Erlebnis.
Die größte Herde von Wildpferde-Nachzuchten allerdings tummelt sich bei Dülmen in Nordrhein-Westfalen. Urkundlich erwähnt wurden die Dülmener Wildpferde bereits im Jahr 1316; heute leben rund 400 der Tiere das ganze Jahr über im Naturschutzgebiet Merfelder Bruch, einem Moor- und Heidegebiet. Spektakulär ist ein Besuch dort gerade am letzten Samstag im Mai – dann werden die einjährigen Hengste aus der Herde herausgefangen, um Revierkämpfen vorzubeugen.

Doch auch wenn es sich bei den genannten Beispielen nicht um richtige Wildpferde handelt, können selbst Laien den Unterschied zu üblichen Pferden schnell erspüren: Die wilderen Arten sind weniger schreckhaft, sondern eher neugierig. Sie nähern sich ganz unbefangen den Besucherinnen und Besuchern an, schnuppern zugewandt an jedem neuen Gast. Antonia Gerke erklärt, das liege an ihrer natürlichen Lebensumgebung, die für die Tiere ohnehin immer Spannendes zu erforschen bereithalte. So entspricht es Pferden also ganz und gar nicht, den ganzen Tag brav im Stall zu stehen – viel lieber bewegen sie sich frei auf der Weide und traben auf Entdeckungsreisen.
Wer bei einem Besuch in Hobrechtsfelde für eines der Pferde zum Gegenstand des Interesses wird, kann mit seinem Gegenüber auch kommunizieren. Über die Körpersprache, wie Antonia Gerke erklärt. Mimik, Augenausdruck, Körperhaltung – das alles spiele dabei eine Rolle. Pferde, so Gerke, könnten sogar den Muskeltonus, die Atemfrequenz und die Herzfrequenz ihres „Gesprächspartners“ lesen.
Doch das Konik-Pferd, das in diesem Moment vor uns steht, hat keine Zeit, sich zu unterhalten. Es wirft sich in den Sand, schubbert sich den Rücken, steht auf und schüttelt sich. „Das zeigt, dass es sich wohlfühlt und gesund ist“, sagt Antonia Gerke und lacht.
Gut Hobrechtsfelde. Hobrechtsfelder Dorfstraße 45, 16341 Panketal. Die nächsten kostenlosen Führungen finden am 20. und 21. Juli ab 17 Uhr statt; die eineinhalbstündigen Exkursionen sind kostenlos. Um eine Anmeldung unter [email protected] wird gebeten. Weitere Termine und Informationen unter www.pferdekultur-gut-hobrechtsfelde.de
Berliner-zeitung