Wie ich Venedig nicht lieben wollte – und einfach nicht anders konnte

Zwischendurch dachte ich, ich ziehe das jetzt durch. Es war eine Art besonderes Kennzeichen geworden, nie in Venedig gewesen zu sein, so wie die Narbe am Kinn, die lange in meinem Pass verzeichnet war. Fast genoss ich das Erstaunen, wenn sich wieder eine Runde beim Abendessen einig war, absurd, noch nie in Venedig! Dann wurde gefachsimpelt. Man war sich einig, dass der Campo Santa Margherita der schönste Platz der Stadt sei. Oder dass man eigentlich nur noch auf Giudecca wohnen könne sowie unter keinen Umständen tagsüber auch nur in die Nähe des Markusplatzes kommen sollte, ganz zu schweigen von der Rialtobrücke.
Im November vorigen Jahres ergab es sich, dass ein Platz im Auto von Freunden frei war, ebenso ein Bett im Airbnb – und so fuhr ich doch hin, ein bisschen nervös, denn wie sollte die Realität mit einer so lange gehegten Vorstellung mithalten können? Der dänische Filmregisseur Lars von Trier sagte mal, er reise ungern, denn die Realität bleibe immer hinter den Erwartungen zurück. Und Erwartungen hat man natürlich, wenn man all diese Geschichten gehört hat, wenn man Filme gesehen hat wie Wenn die Gondeln Trauer tragen oder Der Tod in Venedig, wenn man Bücher gelesen hat wie Cornelia Funkes Jugendbuch Herr der Diebe oder Ulrich Tukurs persönliche Venedig-Geschichten Die Seerose im Speisesaal. Kitschangst hatte ich auch, vor allem vor den Gondeln und Gondolieri.
Aber dann! Es ist überhaupt nicht originell, Venedig schön zu finden, doch mich hat auch überrascht, wie toll ich die Stadt fand. Mit dem Wassertaxi herumzufahren, den Geruch des Meeres in der Nase. Mittags Aperol Spritz für drei Euro aus einem Plastikbecher zu trinken und zum ersten Mal zu verstehen, dass es ein Daydrinking-Getränk ist. Binnen Sekunden von einem sehr belebten Ort in der Stille zu landen und sich wie der einzige Mensch in der Stadt zu fühlen. Sich hoffnungslos zu verlaufen, weil wir trotz Google Maps ständig vor einem Kanal standen, über den keine Brücke führte. Die Boote, die vor den Häusern parken und mit denen die Menschen hier jeden Tag herumfahren, weil alle anderen Fortbewegungsmittel sinnlos sind. Die Ergriffenheit, wenn in der Dämmerung der Nebel tief und schwer über den Kanälen hängt und man denkt: »So was Schönes habe ich noch nie gesehen«.
Wir fuhren mit dem Wassertaxi zur Rialtobrücke, neben uns ein Paar in einer Gondel, das sich an den Händen hielt, das gefürchtete Klischee ereignete sich also – und war total in Ordnung. An einem unserer drei Abende sahen wir einen Haufen Eltern und Kinder, Leute aus dem Viertel, vor einem kleinen Laden, aus dem laute Musik kam. Zwei Clowns, einer sang, der andere spielte Gitarre, sie coverten Songs von Adriano Celentano und Taylor Swift, und alle sangen mit und tanzten auf der Straße. Manche Kinder wollten irgendwann nach Hause und zogen an ihren Müttern und Vätern, doch die waren noch nicht müde. Ganz normales Leben in Venedig, davon hatte ich bisher kaum etwas gehört. Aber natürlich gibt es das dort auch noch.
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